Sammlungsgeschichte
Die Ursprünge der Anneliden-Sammlung leiten sich sowohl aus den Forschungsinteressen und Sammlungsreisen der früheren Kuratorinnen und Kuratoren als auch deren Tauschaktivität mit anderen Institutionen ab. In geringem Umfang wurde sie auch durch Ankäufe von Material (zum Teil aus dem Museum Godeffroy) erweitert. Anneliden (Ringelwürmer) waren lange ein Teil der Sammlung „Vermes“, unter der viele wurmartige Gruppen wirbelloser Tiere zusammengefasst waren.
Die Arbeit von Johann Wilhelm Michaelsen (1860 – 1937), der die von seinem Freund Alfred Lothar Wegener entwickelte Theorie der Plattentektonik durch seine eigenen Untersuchungen an der Biogeografie der Regenwürmer und Regenwurmverwandten untermauern konnte, ist besonders hervorzuheben. Im Zuge seiner Forschung unternahm Michaelsen Reisen nach Südamerika, Afrika sowie Australien und sammelte sowohl Wurmfossilien als auch rezente Würmer. Zusammen kamen Belegexemplare für mehr als 1.400 Arten, die die Hamburger Sammlung weltberühmt machten und nach wie vor maßgeblich zu ihrer Bedeutung beitragen. Gemeinsam mit Kollegen wie Ernst Heinrich Ehlers (1835 – 1925) und Hermann Augener (1872 – 1938) arbeitete Michaelsen auch intensiv mit Meeresborstenwürmer: Viele der Würmer, die von frühen (Hamburger) Sammlungsreisen in die Antarktis oder die Südsee mitgebracht wurden, wurden von vor allem Ehlers und Augener sortiert, identifiziert und beschrieben
Keiner dieser Gründungsväter der Anneliden-Sammlung musste den größten Schicksalsschlag des Hamburger Naturkundemuseums miterleben: die Zerstörung während des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1943. Glücklicherweise konnten die meisten Alkoholpräparate von den damaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in U-Bahnschächten in Sicherheit gebracht werden und blieben dadurch bis heute erhalten. Allerdings gingen die suboptimalen Aufbewahrungsbedingungen nicht spurlos am Museumsmaterial vorbei: viele der ursprünglichen Kataloge und Etiketten sind im schlechten Zustand. Heute werden sie in mühsamer Kleinarbeit von Experten restauriert und damit für die Nachwelt bewahrt.
Nach dem Krieg wurde die Anneliden-Sammlung gespalten. Einerseits aus platztechnischen Gründen und andererseits als Anpassung an die Interessen der Kuratorinnen und Kuratoren: Kleine marine (im Meer lebende) Gruppen wie Spritz- und Igelwürmer, sowie terrestrische/limnische (Erd- oder Süßwasser bewohnende) Gruppen wie Oligochaeten (Wenigborster, also Regenwürmer und Regenwurmverwandte) und Hirudinea (Egel) wurden Teil der Sammlung „Wirbellose I“ (gemeinsam mit anderen Gruppen von Wirbellosen wie Quallen, , Fadenwürmern, Bandwürmern, Seeigeln, Seesternen, Seegurken, Stummelfüßern, Bärtierchen und vielen weiteren). Die große Gruppe der marinen Polychaeten (Meeresborstenwürmer) bildeten zusammen mit dem Crustacea (Krebstieren) die Sammlung „Wirbellose II“.
Lag der Fokus der Anneliden-Forschung vor dem Krieg noch auf den uns bekannteren terrestrischen Regenwürmern und ihren Verwandten, war nun die Zeit der Meeresborstenwürmer gekommen. Diese Entwicklung wurde durch zunehmende Forschungsaktivitäten auf See und damit verbundene Erkundung der Tiefsee sowie Polarregionen ermöglicht. Gesa Hartmann-Schröder, die gemeinsam mit ihrem Ehemann Gerhard Hartmann viele Jahre die Sammlung „Wirbellose II“ betreute, gilt heute als die Anneliden-Forscherin, die die meisten Arten beschrieben hat. Über 500 Arten wurden von ihr entdeckt, von denen sich auch heute noch im Sammlungsraum des LIB Belegexemplare finden lassen. Neben der Bedeutung für die Taxonomie bereitete Gesa Hartmann-Schröder so gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen an anderen Institutionen den Weg für Frauen in die Wissenschaft und ihre abenteuerlicheren Bereiche (mit Exkursionen, Schiffsfahrten, …) vor. Ihre Nachfolge in der Sammlung in Hamburg übernahm Angelika Brandt, die den Bestand der Annelida und Crustacea ebenfalls durch etliche Forschungsreisen, vor allem in die schwer zugänglichen Regionen der Antarktis sowie der Tiefsee, erweiterte.
Die diversen Anneliden sind auch Gegenstand systematischer und phylogenetischer Forschung, die bei der Einordnung der verschiedenen Baupläne und Lebensweisen in das Evolutionsgeschehen hilft. Dabei stellte sich in den letzten Jahren heraus, dass Regenwürmer, Egel und einige der kleineren Wurm-Gruppen evolutionär aus den Meeresborstenwürmern hervorgegangen sind. Dementsprechend folgte dann auch die Zusammenführung der beiden Teilsammlungen in die Kustodie „Annelida“ am LIB im November 2019.