Sammlungsgeschichte
Die Entwicklung der Annelida-Sammlung begann im 19. Jahrhundert mit zahlreichen Sammelreisen und Expeditionen, die von den frühen Kustoden des Museums organisiert und durchgeführt wurden, mit dem regen Austausch von Exemplaren aus aller Welt zwischen verschiedenen Institutionen und mit Exemplaren, die von professionellen Sammlern dieser Zeit erworben wurden, wie z.B. der Sammlung Godeffroy.
Johann Wilhelm Michaelsen (1860 - 1937) war in diesen frühen Tagen der Annelidenforschung in Hamburg besonders wichtig. Als Kurator in Hamburg unterstützte Michaelsen seinen Freund Alfred Lothar Wegener bei der Entwicklung seiner Theorie der Plattentektonik mit eigenen Studien zur Biogeographie der Regenwürmer und ihrer Verwandten. Er reiste nach Südamerika, Afrika und Australien, um fossile und rezente Würmer für seine Studien zu sammeln. Durch seine taxonomische Arbeit stellte er die weltweit bedeutende Sammlung von Holotypen für mehr als 1400 Arten zusammen, die den Kern der heutigen Ringelwurmsammlung bilden.
Zusammen mit Kollegen wie Ernst Heinrich Ehlers (1835 - 1925) und Hermann Augener (1872 - 1938) fügte Michaelsen der Polychaetensammlung durch frühe Sammelexpeditionen in tropische und polare Regionen ebenfalls viele Exemplare hinzu, wie die Hamburger Magalhaensische Sammelreise (1892-1893) nach Patagonien, die Deutsche Tiefsee-Expedition (1898-1899) in den tiefen Atlantik, die Deutsche Südpolar-Expedition (1901-1903) in die Antarktis und die Hamburger südwest-australische Forschungsreise (1905) nach Westaustralien.
Keines dieser Gründungsmitglieder der Ringelwurmsammlung hat das größte Unglück in der Geschichte des Naturmuseums Hamburg miterlebt: die vollständige Zerstörung durch die Bombenangriffe 1943 während des Zweiten Weltkriegs. Dank des heldenhaften Einsatzes des Museumspersonals konnten die meisten Exemplare durch die kriegsbedingte Einlagerung in ungenutzten U-Bahn-Tunneln und Kammern gerettet werden. Während die meisten Exemplare unversehrt überlebten, forderten die suboptimalen Lagerungsbedingungen ihren Tribut von den Papierkatalogen und den Etiketten der Gefäße, die nun sorgfältig restauriert und für die Forschung und die Nachwelt archiviert werden.
Nach dem Krieg führten die räumlichen Beschränkungen im neuen Lagergebäude und die unterschiedlichen Forschungsinteressen der Kuratoren zu einer Zweiteilung der Annelida-Sammlung: Die Land- und Süßwasser-Oligochaeta und Hirudinea (Regenwürmer, Blutegel und ihre Verwandten) wurden zusammen mit den unsegmentierten Würmern Sipuncula und Echiura (beides ehemalige Phyla, die jetzt als Annelida klassifiziert werden) sowie Nesseltieren (Quallen, Korallen), Bandwürmern (Platyhelminthes), Rundwürmern (Nematoda), Stachelhäutern (Seesterne und Verwandte) und anderen in die Sammlung "Wirbellose Tiere I" integriert. Die große Sammlung der marinen Annelida (Polychaeta) wurde zusammen mit den Crustacea in der Sammlung "Wirbellose Tiere II" zusammengefasst.
Gesa Hartmann-Schröder (1931 - 2022) pflegte und entwickelte die Polychaeten-Sammlung gemeinsam mit ihrem Mann Gerhard Hartmann, der bis Mitte der 1990er Jahre Kurator der Sammlung "Wirbellose Tiere II" war. Gemeinsam sammelten die beiden in der ganzen Welt, mit einem besonderen Schwerpunkt auf der südlichen Hemisphäre. Gesa Hartmann-Schröder gilt heute als die produktivste Polychaeten-Taxonomin aller Zeiten, die mehr als 500 Arten beschrieben hat, von denen viele noch immer gültig sind. Ihre umfangreiche Typensammlung, die immer noch Teil der Annelida-Sammlungen im Naturkundemuseum Hamburg ist, gehört zu den größten Sammlungen dieser Art weltweit und ist eine wichtige Quelle für die heutige Polychaeten-Taxonomie. Die Arbeit von Gesa Hartmann-Schröder stärkte die Stellung von Frauen als unabhängige Forscherinnen. Auf sie folgte Angelika Brandt, die zahlreiche Expeditionen in die Antarktis und die Tiefsee leitete und die Repräsentativität der Sammlung in diesen wenig beprobten Gebieten verstärkte. Durch diese bemerkenswerten Frauen verdoppelte sich die Zahl der Exemplare in der Sammlung nahezu und die geografische Abdeckung und der Wert der Sammlung wurden gesteigert.
Heute wächst die Sammlung durch Feldforschung und globale Zusammenarbeit weiter an, und die Digitalisierung der Sammlung ist in vollem Gange. Wichtige Veränderungen in der Systematik der Ringelwürmer, die sich in den letzten 20 Jahren durch fortschrittliche genetische Methoden ergeben haben, haben zu einem neuen Verständnis der Ringelwürmer-Evolution geführt, und viele spannende Forschungsfragen bleiben offen. Als Folge dieser aktualisierten Klassifizierung vereint die Annelida-Sammlung nun die Gruppen Oligochaeta, Hirudinea, Polychaeta, Echiura und Sipuncula.