Forschungsprojekt
Adelbert von Chamisso - Dichtender Naturforscher oder naturforschender Dichter
Chamisso hat unlängst auch als Naturforscher wieder mehr Aufmerksamkeit erfahren. Dass er die Naturkunde seiner Zeit und auf seine Weise gleichsam mit Siebenmeilenstiefeln durchmessen hat, zeigt der Beitrag „Naturkunde mit den Augen des Dichters. Mit Siebenmeilenstiefeln zum Artkonzept bei Adelbert von Chamisso“ von Matthias Glaubrecht im jüngst erschienenen Sammelband „Korrespondenzen und Transformationen. Neue Perspektiven auf Adelbert von Chamisso“, herausgegeben von Marie-Theres Federhofer und Jutta Weber (erschienen im Dez. 2012 bei Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen; Seiten 51-84).
Der Naturforscher Chamisso rückt auch in den Blick in der jüngst erschienenen Neuausgabe der „Reise um die Welt“ von Adelbert von Chamisso. Sie enthält ein essayistisches Nachwort von Matthias Glaubrecht samt editorischer Anmerkungen und erstmals die Zusammenstellung eines vollständigen Verzeichnisses der insgesamt 150 Lithographien von Ludwig Choris, die während der russischen “Rurik”-Expedition 1815-1818 entstanden sind und die hier erstmals den Reisenbericht Chamissos von 1836 illustrieren:
“Mit den Augen des Poeten. Der Naturforscher Adelbert von Chamisso auf Weltreise“.
Die Andere Bibliothek, Berlin 2012; Nachwort, Seiten 445-487.
(http://www.dradio.de/dlf/sendungen/studiozeit-ks/1897089/)
Literturkritik zum 175. Todestag von Chamisso – Rezension:
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=18219
Wie weit Chamisso seiner Zeit und seinen Zeitgenossen oft voraus gelangt ist, zeigt auch die soeben erschienene detaillierte Untersuchung zu einem erstmals von ihm während der Weltreise entdeckten zoologischen Phänomen - dem Generationswechsel im Lebenszyklus mariner Meerestiere, der sogenannten Salpen innerhalb der Manteltiere (Tunicata). Die Berliner Zoologen Matthias Glaubrecht und Wolfgang Dohle bewerten und würdigen Chamissos Beobachtungen und Einsichten neu und untersuchen auch die Rezeption von Chamissos Darstellung durch dessen Zeitgenossen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dabei untersuchen sie nicht nur die Originalschrift von Chamissos Dissertation “De Salpa” von 1819, sondern auch handschriftliche Dokumente zur Entstehung dieser Schrift im Nachlass Chamissos in der Staatsbibliothek Berlin:
Matthias Glaubrecht & Wolfgang Dohle 2012. Discovering the alternation of generations in salps (Tunicata, Thaliacea): Adelbert von Chamisso’s dissertation “De Salpa” 1819 - its material, origin and reception in the early nineteenth century. - Zoosystematics and Evolution 88(2): 317-363.
Inwieweit der Naturforscher Chamisso, der im Herbst 1810 an der Berliner Universität zu studieren begonnen hatte, bereits naturkundliche Kenntnisse und sein Wissen auch in die märchenhafte Dichtung seines 1813 entstandenen „Peter Schlemihl“ einfließen ließ, untersucht ein weiterer Beitrag im jüngst erschienenen Jahrbuch „Editio“:
Nikolas Immer & Matthias Glaubrecht 2012. Peter Schlemihl als Naturforscher. Das zehnte Kapitel von Chamissos Märchenerzählung in editionsphilologischer und wissenschaftshistorischer Perspektive. – In: Nutt-Kofoth, R., Plachta, B. & Woesler, W. (eds.), Editio – Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft, Bd. 26, pp. 123-144. DeGruyter, Berlin.
Das Chamisso-Projekt am Museum für Naturkunde
Wir bereiten, unterstützt durch Praktikanten und Ehrenamtliche Mitarbeiter (derzeit die Geschichtsstudentin an der HU-Berlin Anne McKinney), eine Zusammenstellung sämtlicher von Adelbert von Chamisso während der russischen „Rurik-Expedition“ 1815-1818 gesammelter und an das Berliner Museum übergebener zoologischer Objekte vor.
Dazu ist eine weitere Publikation geplant und in Vorbereitung.
Chamissos Schädel wiedergefunden
„Die mehrsten Menschen, wie auch unsere Nordländer, bestatten ihre Toten und halten die Gräber heilig. Der Reisende und Sammler kann nur durch einen seltenen glücklichen Zufall zu dem Besitze von Schädeln gelangen, die für die Geschichte der Menschenrassen von der höchsten Wichtigkeit sind.“
Adelbert von Chamisso, „Reise um die Welt“ (1836: 137)
Anfangs war es ihm kaum mehr als eine beiläufige Randnotiz wert. Am Schluß seiner “Bemerkungen und Ansichten” aus dem Jahr 1821, die als dritter Band zu Otto von Kotzebues „Entdeckungs-Reise in die Südsee und nach der Bering-Straße zur Erforschung der nordöstlichen Durchfahrt“ erschienen, vermerkte Adelbert von Chamisso anlässlich des Besuchs der russischen Brigg „Rurik“ bei den Bewohnern der in der Bering-Straße belegenen Stankt Laurenz-Insel: “Sie scheinen nicht ihre Todten … zu verbrennen. Wir haben Schädel auf dem Plateau der Insel und in den Felsentrümmern am Fuße der Höhen angetroffen, aber nicht die aus Treibholz ausgeführten Monumente bemerkt, die auf der amerikanischen Küste die Ruhestätte der Todten über den gefrornen Boden der Hügel bezeichnen, und vor den wilden Thieren schützen” (Chamisso 1821: 178).
In seinem zwei Jahrzehnte später verfaßten sogenannten Tagebuch der „Reise um die Welt“ wird Chamisso in diesem Punkt sehr viel deutlicher, als er davon berichtet, wie die Expedition während der Sommer-Kampagne 1816 die Sankt Laurenz-Insel, den nördlich davon gelegenen Kotzebue-Sund an der Westküste Alaskas und schließlich die Kette der Aleuten-Inseln besuchte. Hier notiert er zu den Funden menschlicher Schädel: „Ich habe das Glück gehabt, die reiche Schädelsammlung des Berliner Anatomischen Museums mit dreien, nicht leicht zu beschaffenden Exemplaren zu beschenken: diesem von der Sankt-Laurenz-Insel, einem Aleuten aus einem alten Grabmal auf Unalaschka und einem Eskimo aus den Gräbern der Bucht der Guten Hoffnung in Kotzebues-Sund. Von den dreien war nur der letztere schadhaft“ (Chamisso 1836: 137). Auch der Maler der „Rurik“-Expedition, Ludwig Choris, bildete 1822 in sein illustrierten Reisewerk den Schädel eines Eskimos vom Kotzebue-Sund und den eines Aleuten ab.
So deutlich indes Chamissos Hinweis auf die von ihm gesammelten Menschen-Schädel aus der Arktis, so unbeachtet blieben sie dann über beinahe zwei Jahrhunderte. Jetzt ist es Matthias Glaubrecht gelungen, wenigstens einen dieser drei von Chamisso erwähnten Schädel ausfindig zu machen. Derjenige eines etwa 60 Jahre alten männlichen Aleuten von der Insel Unalaschka befand sich lange Zeit in der Sammlung des Anatomischen Instituts der Charité in Berlin. Die Odyssee dieses Schädels mit der Inventarnummer AN 3901 konnte rekonstruiert und dieser mit modernsten anthropologischen Methoden untersucht werden:
Glaubrecht, M., Seethaler, N., Teßmann, B. & Koel-Abt, K. 2013. „The potential of biohistory: Re-discovering Adelbert von Chamisso’s skull of an Aleut collected during the “Rurik” Expedition 1815-1818 in Alaska“, veröffentlicht in der Fachzeitschrift Zoosystematics and Evolution, Band 89, Heft 2: 317-336.
Bei dem Schädel, der inzwischen an das Museum für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz in Berlin übergeben wurde, handelt es sich nicht um jenen, den auch Choris zeichnete; was das von Chamisso weiter Mitgeteilte bestätigt. Und wie bei ihm kaum anders zu erwarten, schloß er die besagte Episode in seinem Reisebericht von 1836 mit einer ebenso auf-schlußreichen wie nachdenklichen Überlegung. Sie zeigt, dass sich Chamisso – übrigens als einer der ganz wenigen seiner Zeit, und damit einmal mehr dieser voraus – des Frevels und Vergehens der Mannschaft der „Rurik“ bewußt war, nachdem sie die Grabstelle von Eskimos im Kotzebue-Sund plünderten. „Unsere habsüchtige Neugierde hat diese Grabmäler durchwühlt, die Schädel sind daraus entwendet worden. Was der Naturforscher sammelte, wollte der Maler, wollte jeder auch für sich sammeln. …Es wurde zu spät bemerkt, was besser unterblieben wäre. Ich klage uns darob nicht an, wahrlich, wir waren alle des menschenfreundlichsten Sinnes, und ich glaube nicht, dass Europäer sich gegen fremde Völker, gegen ‚Wilde’ (Herr von Kotzebue nennt auch die Eskimos ‚Wilde“) musterhafter betragen können, als wir allerorten getan, namentlich unsere Matrosen verdienen in vollem Maße das Lob, das ihnen der Kapitän auch gibt. Aber hätte dieses Volk um die geschändeten Gräber seiner Toten zu den Waffen gegriffen: Wer mochte da die Schuld des vergossenen Blutes tragen?“ (Chamisso 1836: 153-154).
Entstandene Veröffentlichungen
Glaubrecht, M., Seethaler, N., Teßmann, B. & Koel-Abt, K. 2013. The potential of biohistory: Re-
discovering Adelbert von Chamisso’s skull of an Aleut collected during the “Rurik” Expedition 1815-1818 in Alaska. Zoosystematics and Evolution 89 (2): 317-336.
Glaubrecht, M. 2012. Naturkunde mit den Augen des Dichters. Mit Siebenmeilenstiefeln zum Artkonzept bei Adelbert von Chamisso.- In: Federhofer, Marie-Theres und Weber, Jutta (Hrsg.), Korrespondenzen und Transformationen. Neue Perspektiven auf Adelbert von Chamisso, pp. 51-84. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.
Glaubrecht, M. 2012. Mit den Augen des Poeten. Der Naturforscher Adelbert von Chamisso auf Weltreise. Ein essayistisches Nachwort, editorische Anmerkungen und Verzeichnis der Illustrationen. - In: Chamisso, Adelbert von, Reise um die Welt, mit 150 Lithographien von Ludwig Choris. pp. 445-487. Die Andere Bibliothek, Berlin.
Glaubrecht, M. & Dohle, W. 2012. Discovering the alternation of generations in salps (Tunicata, Thaliacea): Adelbert von Chamisso’s dissertation “De Salpa” 1819 - its material, origin and reception in the early nineteenth century. Zoosystematics and Evolution 88(2): 317-363.
Immer, N. & Glaubrecht, M. 2012. Peter Schlemihl als Naturforscher. Das zehnte Kapitel von Chamissos Märchenerzählung in editionsphilologischer und wissenschaftshistorischer Perspektive. – In: Nutt-Kofoth, R., Plachta, B. & Woesler, W. (eds.), Editio – Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft, Bd. 26, pp. 123-144. DeGruyter, Berlin.