Adaptive Radiation im Tanganjikasee
Zentraler Gegenstand der Evolutionsforschung ist die Entstehung neuer Arten. Ein häufiges Ergebnis dieser Artenbildung ist die sogenannte „adaptive Radiation“, bei der es zu Anpassungen an zuvor isolierte oder neu entstandene Lebensräume – etwa Inseln oder Süßwasserseen – und Annidation (d.h. die Herausbildung neuer Nischen) kommt. Bekannt und viel zitiert ist dies für die Darwinfinken auf Galapagos oder Buntbarsche in ostafrikanischen Seen. Weniger bekannt sind dagegen die vielen Fälle unter wirbellosen Tieren, etwa die Artenschwärme bei Süßwasserschnecken, etwa in den Zentralseen der indonesischen Insel Sulawesi oder im Tanganjika-See Ostafrikas.
Der Tanganjika-See ist der größte und tiefste Grabenbruchsee Afrikas. Dieser Langzeitsee wird als evolutionärer „hot spot“ der Artenbildung gesehen, der für mehr als 10 Millionen Jahre stabile Umweltbedingungen bot, wodurch eine einzigartige Möglichkeiten zur Diversifikation und trophischen Spezialisierung gegeben war. Die Gastropodenfauna dieses Sees haben wir in früheren Arbeiten eingehend morphologisch wie molekulargenetisch charakterisiert (z.B. Glaubrecht 2008; Wilson et al. 2004).
Als ein wichtiger Schlüsselfaktor der adaptiven Radiation bei diesen sowie anderen Artenschwärmen unter Schnecken erscheint eine tropische Spezialisierung mittels der Radula. Dieses Organ zur Nahrungsaufnahme- und Verarbeitung bei Gastropoden weist eine enorme morphologische Vielgestaltigkeit auf. Diese Disparität der Radulae wird einerseits als phylogenetisches Erbe, andererseits aber auch als Antwort auf Umweltanforderungen angesehen. Insbesondere die Funktionsweise des Organs wurde bislang aber nur in Grundzügen untersucht.
Mittels Funktionsanalysen kann die ökologische und biomechanische Signifikanz von Strukturen beurteilt werden. Dadurch lassen sich in durchaus innovativer Perspektive Evolutionsphänomene wie trophische Spezialisierung im Rahmen einer adaptiven Radiation auch als Ergebnis funktionaler Zusammenhänge und somit physikalischer Gesetzmäßigkeiten verstehen.
Eine funktionsmorphologische Analyse der Radula liefert daher grundlegende Erkenntnisse über die Beurteilung morphologischer Merkmale bei einer evolutionsökologischen Charakterisierung einzelner nahe verwandter Arten. Im Projekt sollen aktuelle Methoden der quantitativen Form-, Material- und Funktionsanalyse eingesetzt werden, um so an die Grundlagenforschung zur Radiation und Evolution von Organismen anzuknüpfen.
Die morphologisch wie phylogenetisch differenzierten Schnecken des Tanganjika-Sees aus der Familie der Paludomidae stellen ein besonders geeignetes Modellsystem dar, insbesondere im hier in den Blick genommenen Abgleich mit weniger ausdifferenzierten Mitgliedern anderer Radiationen (etwa bei den Pachychilidae in den Seen Sulawesis sowie den Thiaridae der Flüsse Australiens).
Die Untersuchung gerade der paludomiden Schnecken des Tanganjika-Sees erlaubt es, Hypothesen zu den Mechanismen von Artenbildung, insbesondere zu Differenzierung und Spezialisierung, zu formulieren und diese mit den vorgeschlagenen Methoden zu testen. Es bietet sich hier die faszinierende Möglichkeit, einzelne Zweige einer Radiation als Antwort auf ein im See vorhandenes Angebot an Nahrungs- und Substratnischen zu überprüfen, und zudem im Umkehrschluss den phylogenetisch-systematischen Wert bestimmter Morphologien besser vom funktionalen Kontext abzutrennen.
Ein Ziel des Projekts ist es, festzustellen, ob eine trophische Spezialisierung der Radula festzustellen ist. Hierfür wurden die Zahnmorphologien genau studiert und mit der Ökologie zusammengebracht. Dabei wurde festgestellt, dass nicht nur die Zähne, sondern auch ihre Einbettung oder Verankerung in der Radulamembran mit ihrer ökologischen Nische korrelieren. In Kooperation mit der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, der Abteilung Funktionelle Morphologie und Biomechanik (AG Gorb), wurden weiter Studien zur Härte- und Elastizität der Radula-Zähnchen durchgeführt und diese Parameter mit dem Substrat, auf dem sich die Nahrung der Schnecken befindet, in Verbindung gebracht. Dabei wurden funktionelle Gradienten entdeckt, die es den Zähnen ermöglicht, sich aufeinander abzustützen und so mechanisch zu stabilisieren. Des Weiteren konnten verschiedene Funktionen den einzelnen Zahntypen zugeordnet werden, manche Zähne lösen die Nahrung vom Substrat, andere rächen sie danach zusammen. Diese Ergebnisse wurden durch nummerische Fraßsimulationen, in die die 3D Morphologie der Zähne und die Materialeigenschaften eingeflossen sind, gestützt.
Ein weiterer Schwerpunkt des Projektes beschäftigt sich mit der Annidation getrieben durch Schalengröße. Die Paludomidenarten des Tanganyikasees stechen durch immense Größenunterschiede zwischen den adulten Tieren heraus, was ein starkes Indiz dafür ist, dass die Arten durch unterschiedliche Körpergröße Konkurrenz vermeiden oder reduzieren. Dafür wurde auf biometrische Datensätze tausender Tiere zurückgegriffen, die ausgewertet und mit der Ökologie der Tiere in Zusammenhang gebracht wurden. Erste Ergebnisse wurden auf der 17. GfBS-Tagung präsentiert:
Eine Grundvoraussetzung für die Projekte ist allerdings Klarheit über die Anzahl der Arten in Bestimmten Gattungen. Dafür wurden neue Methoden, wie geometrische Morphometrie, im Rahmen einer Masterarbeit angewandt.
Folgende Abschlussarbeiten wurden in diesem Projekt durchgeführt:
- Towards a systematic revision of Bridouxia
- Functional Morphology of the Radula Anchorage
- Verschiedene Werkzeuge auf einer einzigen Radula: 3D Modellierung und FFA geben Hinweise auf die Funktion von taenioglossen Radula-Zähnchen.
Folgende Publikationen sind bis jetzt entstanden:
- Krings, W., Kovalev, A., Glaubrecht, M., Gorb, S.N., 2019. Differences in the Young modulus and hardness reflect different functions of teeth within the taenioglossan radula of gastropods. Zoology 137: 125713. https:/doi:10.1016//j.zool.2019.125713.
- Krings, W., Brütt, J.-O., Gorb, S., Glaubrecht, M. 2020. Tightening it up: Diversity of the chitin Anchorage of radular teeth in paludomid freshwater gastropods. Malacologia https://doi.org/10.4002/040.063.0108.
- Krings, W., Marcé-Nogué, N., Karabacak, H., Glaubrecht, M., & Gorb, S.N. 2020. Finite element analysis of individual taenioglossan radula teeth. Acta Biomaterialia, https://doi.org/10.1016/j.actbio.2020.08.034.
Folgende Tagungsbeiträge sind bis jetzt entstanden:
Vorträge:
- Krings, W., Neiber, M.T., Marcé-Nogué, J., Kovalev, A., Gorb, S.N. & Glaubrecht, M.: Revealing evolution tooth by tooth: Convergent trophic specialization of a paludomid species flock in an ‘ancient’ African lake. DZG 2019.
- Krings, W., Neiber, M.T., Kovalev, A., Gorb, S.N. & Glaubrecht, M.: Diversity overload – niche partitioning resulting in various shell sizes and tooth morphologies in a radiation of gastropods in ‘ancient’ Lake Tanganyika. DZG 2018.
- Krings, W., Brütt, J.-O. & Glaubrecht, M. (2017): Tightening it up: Functional Morphology of the Chitin Anchorage of Radula-Teeth in Freshwater-Gastropods. DZG Fachtagung Morphologie 2017.
- Krings, W. & Glaubrecht, M. (2016): A Hard Nut to Crack: Revealing Evolution Tooth by Tooth. In: Book of abstracts DZG meeting 2016.
- Krings, W. & Glaubrecht, M.: Evolutionary organ pipes in full blast: Do snails dance to the Hutchinson tune? Zitteliana 88: 33. GfBS 2016.
Poster:
- Krings, W., Neiber, M.T., Kovalev, A., Gorb, S.N. & Glaubrecht, M.: Diversity overload – niche partitioning resulting in various tooth morphologies in a radiation of gastropods from ‘ancient Lake Tanganyika. Graduierentenforum Morphologie der DZG 2019.
- Krings, W., Brütt, J.-O. & Glaubrecht, M.: Tightening it up: Functional Morphology of the Chitin Anchorage of Radula-Teeth in Freshwater-Gastropods. DZG Fachtagung Morphologie 2017.
- Krings, W., Neiber, M.T. & Glaubrecht, M.: Evolution – Zahn um Zahn. Radula-Diversität der Paludomidae des Tangajikasees. DMG 2017.
- Krings, W. & Glaubrecht, M.: A Hard Nut to Crack: Revealing Evolution Tooth by Tooth. In: Book of abstracts DZG 2016.