Einführung in das evolutionssystematische Forschungsprogramm
„Ob eine Disziplin zur modernen Biologie gehört, hängt nicht von ihrem Alter ab,
sondern davon, ob sie sich theoretisch und methodisch auf der Höhe der Zeit befindet.“
(Rolf Löther, 1972)
Zur Begriffs-Definition
Der hier verwendete, titelgebende Begriff „Evolutionssystematik“ ist dem Abriss der Biologiegeschichte von Ernst Mayr (1982: 559 ff; deutsch 1984: 449 ff) entnommen, der ihn meiner Kenntnis nach erstmals verwendete. Der Begriff hat danach keine Anwendung mehr gefunden, von einer kurzen Skizze eines entsprechenden Forschungsprogramms bei Glaubrecht (2007: 84-99) abgesehen. Mayr überschrieb mit „advances in evolutionary systematics“ einen Abschnitt, der - aus seiner zugegebenermaßen persönlich gefärbten Sicht des unmittelbar Beteiligten - den Beginn der Aufklärung von Mechanismen bei der Entstehung der organismischen Vielfalt und ihrer gleichsam horizontalen (d.h. geographischen) Komponente darstellt. Zentraler Punkt dabei war für ihn die Integration von Konzepten und Methoden der Systematik mit der damals noch jungen Populationsgenetik vor dem Hintergrund der Entstehung der modernen synthetischen Evolutionstheorie. Mayr hat den Begriff der Evolutionssystematik jedoch nicht eingehend erläutert oder gar formal definiert; dies soll nun hier zur Begründung eines entsprechenden Forschungsprogramms erfolgen.
Evolutionssystematik ist das auf eine phylogenetische Systematik gegründete Studium der organismischen Vielfalt, und zwar unter Berücksichtigung von taxonomischer Vielfalt (Diversität), morphologischer Vielgestaltigkeit (Disparität) sowie genetischer Variabilität, und einschließlich der Untersuchung kausaler Ursachen evolutiven Wandels und des Entstehens neuer Arten und Artengruppen.
Die Evolutionssystematik ist mithin ein Forschungszweig der Biologie, der sich weder allein mit Taxonomie (also dem Sammeln, Beschreiben, Benennen und Klassifizieren) noch allein mit Phylogenetik oder Kladistik, sondern auch mit den zugrundeliegenden Evolutionsvorgängen befaßt. Den Schwerpunkt bilden dabei mikrosystematische Studien zur Erforschung der Biodiversität im allgemeinen, insbesondere der Taxonomie und Systematik auf dem Niveau von Arten und Artengruppen, ergänzt durch Studien zur geographischen Verbreitung und deren Ursachen (insgesondere Historische Biogeographie und Phylogeographie) sowie den kausalen Mechanismen, also zu den Ursachen für Artenbildung (Kladogenese) und Artenwandel (Anagenese). In der evolutionären Systematik geht es daher um die Aufdeckung dessen, was man als die sechs „Darwinschen Mysterien“ bezeichnet kann. Dabei stehen Fragen nach dem Arteninventar („species numbers“), Artbegriff („species concept“) und Artenbildung („speciation“) im Vordergrund (vgl. Glaubrecht 2004, 2009, 2011).
Ausgehend von der Überzeugung, dass die Phylogenese eine Abfolge von Vorgängen ist, die sich sämtlich an den Arten abspielen (Hennig 1957: 62), umfasst die Evolutions¬systematik mithin jene Bereiche, die sich allgemein unter dem Begriff der Mikroevolution wiederfinden. Dabei sei angemerkt, dass die bei der Bildung und Veränderung von Arten wirkenden klado- wie anagenetischen Faktoren zugleich auch zur Erklärung der Entstehung neuer, merkmalsreicher und komplexer Strukturen als ausreichend anzusehen sind; also auch zur Entstehung sogenannter neuer Baupläne (besser: Grundmuster) größerer taxonomischer Einheiten, wie etwa Familien, Ordnungen und Stämme, da eine sogenannte Makroevolution mit eigenen, nur ihr immanenten Faktoren nicht nachgewiesen werden konnte.
Keinesfalls ist vordergründig angesichts der Wortkonstruktion einer evolutionären Systematik an einen Pleonasmus zu denken, d.h. an eine überflüssige Doppelbestimmung und verbale Redundanz (wie dies etwa bei „kaltem Eis“ oder nach landläufiger Meinung bei einem „weißen Schimmel“ der Fall ist; und wenn, dann allenfalls im Sinne einer epithetischen rhetorischen Figur, bei der der Pleonasmus zur Verstärkung, Verdeutlichung oder besonderen Hervorhebung dient). Denn die Systematik ist, wie die 250-jährige Geschichte der Disziplin unschwer belegt, weder implizit noch explizit an das Erkennen oder gar Berücksichtigen von Evolution gebunden; wenngleich bestimmte Bedeutungsinhalte - wie etwa ein tatsächlich „natürliches System“ oder die Existenz nur einer zutreffenden, den Ablauf der Stammesgeschichte reflektierenden Phylogenie und ihre Übersetzung in eine Klassifikation - durch die Vorgänge der Evolution eine zwanglose Erklärung finden.
Die Evolutionssystematik ist ein Forschungszweig, der sich vor allem ausgehend von den basalen Einheiten evolutiven Wandels, den Arten als natürlichen Entitäten (siehe näheres dazu unten), mit den Vorgängen um Artenbildung (Speziation und Radiation), der Verwandtschaft einzelner nächst verwandter Arten zueinander (Phylogenie) und ihrer Vorkommen und ihrer Verbreitung (Biogeographie) beschäftigt. Neben den genealogischen Beziehungen zueinander (und der zeitlichen Komponente von Arten), die vornehmlich über die Phylogenie-Forschung ermittelt werden, spielen dabei auch die geographischen Beziehungen (die räumliche Komponente) eine wichtige Rolle, die insbesondere durch die Biogeographie-Forschung ermittelt werden. Letztlich geht es einer evolutionären Systematik um die Systematisierung samt kausaler Erklärung der Vielfalt, wobei Stammbaum-Hypothesen zur Rekonstruktion des Ablaufes von Evolutionsvorgängen und der Biogeographie genutzt werden.
Belastbar begründet sein müssen die Studien zu diesen Forschungsfragen indes auf der korrekten Anwendung nomenklaturischer und taxonomischer Erkenntnisse, mithin dem hinreichend präzise ermittelten Arteninventar einer beliebigen in Rede stehenden Artengruppe in Abhängigkeit des jeweiligen hierarchischen Niveaus der Betrachtung. Ein Beispiel soll diesen differenziellen Anspruch illustrieren: Sofern eine - sei es mit phylogenetischem oder biogeographischem Interesse gestellte - Frage die Evolutionssystematik etwa einer diesseits und jenseits eines Ozeans vorkommenden Artengruppe betrifft, die derzeit taxonomisch auf dem Niveau zweier Familien begründet wird, so mag die Einbeziehung lediglich der wichtig¬sten konstituierenden Arten als Repräsentanten ausreichend erscheinen. Auch hier wäre zwar die vollständige taxonomische Erfassung sämtlicher konstituierender Mitglieder und durch etwaige Synonymisierung und Subsumierung veranlasste Einordnung der tatsächlich existierenden Arten - auf der Grundlage eines durch Vergleich des Typenmaterials gestützten Inventars benannter Morphospezies - zwar wünschenswert; dies mag aber letztlich für die diesbezüglichen Fragen einer transozeanischen Evolution beider Artengruppen entbehrlich sein. In einem anderen Fall jedoch, etwa bei Studien zur Speziation und Radiation einer untereinander eng verwandten Artengruppe, ist das vollständige systematische Durchforschen die Grundvoraussetzung. Wie anders ließen sich sonst die Mechanismen der Artenbildung (z.B. auf allopatrischem oder sympatrischem Weg, etwa mittels ökologischer Spezialisierung) erforschen und verstehen, wenn nicht tatsächlich alle bei diesen Vorgängen involvierten und daraus resultierenden Mitglieder des fraglichen Artenschwarmes dingfest gemacht werden können. Eine Fülle weiterer Beispiele läßt sich schnell denken, bei denen der jeweils gangbare Grad taxonomisch-systematischer Grundlagenarbeit in differenzierter Weise zuvorderst einzuschätzen bleibt, um tatsächlich in sinnvoller Weise zur Erforschung zu Grunde liegender Evolutionsvorgänge beizutragen.
Mit einem in erster Linie auf die Frage nach der Entstehung von konkreten Arten und Artengruppen bezogenen Forschungsprogramm zielt die Evolutionssystematik über die Systematik mit ihren unverzichtbaren Teildisziplinen Nomenklatur und Taxonomie sowie über die Phylogenetik als genealogische Verwandtschaftsforschung hinaus, indem sie explizit nicht nur nach Mustern sondern den Mechanismen dahinter fragt, also nach den mit organismischem Ansatz erforschbaren Evolutionsvorgängen. Stets steht zuerst die Aufdeckung der systematischen Beziehungen einer zu erforschenden Artengruppe im Fokus, also der Einsatz taxonomischer Verfahren bis hin zur phylogenetischen Analyse mittels morphologischer und/oder in möglichst kombinierter Weise molekulargenetischer Verfahren. Doch rücken auf dieser Grundlage zugleich evolutionsökologische und biogeographische Fragen in den Fokus des Evolutionssystematikers, die ebenfalls zu beantworten sind. Es sollen also nicht nur einzelne Arten erkannt, benannt, beschrieben und nach dem Grad ihrer Verwandtschaft zueinander beurteilt werden, sondern auch jeweils ihre konkrete Naturgeschichte rekonstruiert werden: Wie ist die genealogische Beziehung der jeweiligen Taxa, wo kommen sie her, warum sind sie dort, wo sie sind, und wie kamen sie dorthin; welche Evolutionsprozesse - von den jeweiligen Speziationsfaktoren bis hin zur Rolle einzelner Schlüsselmerkmale - haben an ihrer Entstehung mitgewirkt? Auf diese Weise auf bestimmte Arten(gruppen) bezogen, finden Systematik, Evolutionsbiologie und historische Biogeographie ihre konkrete synergistische Anwendung und wechselseitige Erhellung.
Damit geht die Evolutionssystematik erklärtermaßen über die Systematik als jener Disziplin hinaus, die sich dem Studium aller lebenden und ausgestorbenen Arten im Vergleich zueinander mit dem Ziel widmet, die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen ihnen aufzuklären. Bislang wurde gelegentlich unterschieden zwischen einer klassischen Systematik, die sich noch hauptsächlich mit der Bestimmung und Benennung der Lebewesen (Taxonomie) befaßte, während die moderne Systematik zudem die Rekonstruktion der Stammesgeschichte der Organismen (Phylogenie) einschließt; siehe zur Geschichte, Definition und Abgrenzung der Biosystematik z.B. bei Glaubrecht (2007) und Literatur darin. Die neue Qualität der explizit erweiterten Synthese einer evolutionären Systematik ist es, zudem auch die evolutionsbiologische Erforschung jener Prozesse mit einzubeziehen, die letztlich zur Vielfalt und Vielgestaltigkeit der Organismen führen. Mit dem Zusatz einer evolutionären Systematik soll mithin der komplexere Sachverhalt einer bewußten Integration der Evolutionsforschung betont werden; auch sei bewußt darauf hingewiesen, dass mehr als die bloße Systematisierung angestrebt wird. Der Disziplinbegriff Evolutionssystematik erlaubt es somit, jene hier kurz skizzierten Ansätze von Systematik und Evolutionsbiologie klarer als bisher aufeinander zu beziehen.
Analog wurde dies bereits sehr viel früher beispielsweise im Fall der Ökologie realisiert, die - einst als (erst spät erfolgreicher) Wissenschaftsbegriff von Ernst Haeckel (1866) definiert - durch Hinzufügen klassifikatorischer Subsysteme fortschreitend von der Aut-, zur Syn- , und später zur Demökologie sowie schließlich zur Landschaftsökologie bzw. Ökosystemforschung ausgebaut wurde; sie berücksichtigt somit heute Individuen, Populationen und Arten, Gemeinschaften und Landschaften (siehe u.a. Nyhart 2009: 293-322; Schurig 2009). Während indes im Fall dieser Subsysteme der ökologischen Disziplin ein etwas anderer Forschungsfokus durch jeweils weiter gefaßte taxonomische Gruppen gelegt wird, erweitert sich der Blickwinkel der Evolutionssystematik nicht über die Betrachtung jeweils anderer, rangordnungabhängiger Taxa des hierarchisch-enkaptischen Systems des Tierreichs (wie dies vordergründig und irrigerweise die nicht durchzuhaltende Trennung in Mikro- versus Makroevolution impliziert). Vielmehr wird der Fokus dadurch explizit auf eine evolutionsbiologische Erforschung auf der Grundlage - in diesem Fall der zoologischen - Systematik gelegt. Die Evolutionssystematik strebt mithin die Integration von Systematik, der Phylogenieforschung und der Evolutionsbiologie an.
Da Taxonomen und Systematiker die auch für ihre Arbeit relevanten evolutionsbiologischen Zusammenhänge bislang oftmals geradezu sträflich ignorieren konnten, erscheint mir das Hervorheben eines explizit evolutionssystematischen Forschungsprogramms mehr als begründet und notwendig. Ernst Mayr hat nicht zuletzt aufgrund der fundamentalen Bedeutung der Art wiederholt geklagt, dass die Spezies-Biologie oder „Wissenschaft von den Arten“ nicht als ein eigenständiges Fach neben etwa der Zellbiologie, Histologie, Anatomie etc. vertreten wird (siehe Sudhaus 2005: 145). Schließlich könne „das Problem der Evolution nur durch das Studium konkreter Arten, ihres Ursprungs und ihres Aussterbens gelöst werden“ (Mayr 1984: 323). Wichtiger als eine auf Spezies fokussierten Systematik aber erscheint mir heute eine tatsächlich begründete und gerechtfertigte Evolutionssystematik.
- Evolutionssystematik limnischer Gastropoden (Habilitationsschrift Matthias Glaubrecht 2010) [PDF]
Unlängst wurde das neue Konzept der Evolutionssystematik explizit auch auf andere zoologische Taxa angewendet, beispielsweise bei Süßwasserkrebsen Australiens.
- Evolutionary systematics of the Australian Cyzicidae (Crustacea, Branchiopoda, Spinicaudata) with the description of a new genus (Schwentner, M., Just, F. & Richter, S. 2015. Zoological Journal of the Linnean Society, 173: 271–295.) [PDF]
Zitat (p. 272: "In the present study, we focus on the Australian representatives of the … Cyzicidae. ... The goal is to assess the diversity of the Australia Cyzicidae, their phylogenetic systematics, and their phylogeographical history within an Evolutionary Systematics framework (Glaubrecht, 2007, 2010). Therein, taxonomic diversity, disparity, and genetic variability, as well as the underlying evolutionary causes of speciation, are studied on the basis of phylogenetic systematics".