Biodiversitätsforschung
Biodiversitätsforschung im Kontext - Erschließung und Nutzung musealer Sammlungen
Als evolutionssystematisches Forschungsprogramm ist das auf eine phylogenetische Systematik gegründete Studium der organismischen Vielfalt (Biodiversität) zu verstehen, und zwar unter Berücksichtigung von taxonomischer Vielfalt (Diversität), morphologischer Vielgestaltigkeit (Disparität) sowie genetischer Variabilität, und zwar einschließlich der Untersuchung der kausalen Ursachen des evolutiven Wandels und des Entstehens neuer Arten und Artengruppen. Die Evolutionssytematik (weitere Informationen zur Evolutionssystematik) umfasst mithin Arbeiten zur Theorie und Praxis der zoologischen Systematik sowie der Phylogenie- und Evolutionsforschung mit einem breiten Spektrum an morphologischen wie molekulargenetischen Methoden.
Diese werden in der AG Glaubrecht bisher exemplarisch vor allem am Beispiel ausgewählter und modellhaft genutzter Mollusken untersucht. Zwanglos läßt sich das Programm auch auf weitere taxonomische Gruppen ausdehnen und mithin als Ansatz eines allgemeinen Forschungsprogramms für das CeNak verstehen.
Die Sammlungen des CeNak sind in diesem Zusammenhang ein essentieller Bestandteil dieses neuartigen Ansatzes der Biodiversitätsforschung.
Naturkundliche Sammlungen und die damit verbundene Forschung sind unverzichtbar angesichts der heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen – etwa Bevölkerungswachstum, Lebensraumwandel und -verlust sowie Klimawandel. Nicht nur Deutschland und Europa, sondern die Menschheit steht weltweit vor großen Herausforderungen. Neben den grundsätzlichen Problemen wie Überbevölkerung, Armut, Hunger und Kriegen sind dies im naturwissenschaftlich relevanten Bereich
- der Verlust der natürlichen Lebensräume und der Vielfalt der Biota (Biodiversität), einschließlich der genetischen, Populations- und Artenvielfalt, sowie
- der anthropogene Klimawandel und seine Folgen im Terrestrischen wie auch Marinen.
Die damit in Zusammenhang stehenden Fragen und Forschungen lassen sich sinnvoll durch Objekt- und Materialsammlungen in den naturkundlichen Archiven beantworten bzw. durchführen, weil jeder Versuch von Prognosen essentiell von der Analyse der objektbezogenen Daten im Wissensspeicher dieser musealen Sammlungen abhängt. Mithin sind solche Sammlungen samt der darin enthaltenen Datensätze unverzichtbar für eine Biodiversitätsforschung im Kontext.
Diese profitiert immens von den Beständen der großen Museumssammlungen, sofern der Zugang zu den darin lagernden Datensätzen hergestellt und gewährleistet ist. Daher müssen diese mehr denn je für die Forschung erschlossen werden, was zum originären Auftrag des CeNak im Verbund mit anderen Einrichtungen dieser Art wird:
- Bereitstellung von realen Objekten als unentbehrliche Materialquellen, z.B. Typus- und anderes Material für taxonomisch-systematische, biogeographische und molekulargenetische sowie genomische Forschung;
- Materialarchiv für innovative Forschungsmethoden, insbesondere für DNA-Analysen (etwa zur Untersuchung von Krankheitsverläufen, Einbeziehung einmaliger und anderweitig verschwundener Taxa, von Populationen bis zu ausgestorbenen Arten), sowie für Isotopenprofil-Analysen etc.;
- Datenarchiv für Klima- und Umweltforschung, etwa zur Rekonstruktion von klimatischen und ökologischen Umweltbedingungen über lange Zeiträume;
- historisch-epistomologische Materialien für kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Untersuchungen.
Biodiversitäts-Assessment
Das zentrale Ziel einer solchen modernen Biodiversitätsforschung im Kontext ist insbesondere
- die Erschließung der naturkundlichen, d.h. zoologischen, geologisch-paläontologischen und mineralogischen Sammlungen (aber ergänzend auch der botanischen Sammlungen), sowie
- die Nutzbarmachung und Verfügbarkeit von Datensätzen aus diesen Sammlungen für systematisch-phylogenetische, evolutionsbiologische, ökologische und andere Forschung.
Durch eine interdisziplinär ausgerichtete Evolutionssystematik, integrative neue Taxonomie und allgemeine Biodiversitätsforschung, die neben morphologischer vor allem auch molekulargenetische und genomische Forschung und Informatik einschließt, entsteht eine innovative Forschungsdisziplin sammlungsbezogener Wissenschaft. Diese neue Ausrichtung und Dimension unterstreicht und nutzt den Wert der reichen naturkundlichen Sammlungen des CeNak, die so zugleich weiterentwickelt werden.
Innerhalb des CeNak ist die Einrichtung zweier Schwerpunkt-Forschungsbereiche geplant:
- Integration von Sammlungs-Inventarisierung, Digitalisierung und Neuaufstellung mit innovativen Initiativen – wie etwa etaxonomy, DNAbarcoding- und andere Hochdurchsatz-Sequenzierungsverfahren, historicalDNA-Projekte (zur Erschließung „alter“ Museumsmaterialien bzw. ausgestorbener Arten) – sowie als Cold Archive zusammengefaßte Proben- und Gewebebanken durch entsprechend ausgerichtete Forschung und Entwicklung im Verbund mit den Sammlungen an anderen Museen.
Das Ziel solch eines Biodiversitäts-Assessment ist ein sammlungsfokussierter Beitrag zu bestehenden „all species inventory“-Initiativen insbesondere mit Blick auf die Megadiversitäts-Zentren der Artenvielfalt der Erde etwa in Südost- und Australasien bzw. den Südpolar-Regionen. Neben der Erschließung solcher Diversitätszentren – samt Entdeckung neuer Arten in ihren natürlichen Lebensräumen (soweit noch vorhanden) – spielen dabei die in den naturkundlichen Museen bereits hinterlegten Sammlungen als Material- und Datenarchive eine zunehmend wichtige Rolle. Nur unter Nutzung dieser Archive kann eine möglichst vollständigen Erschließung der Biodiversität gelingen, die die Feststellung und Bestimmung der tatsächlichen Artenzahlen unter Berücksichtigung der natürlichen genetischen Artenvariabilität, der evolutionsbiologisch bedingten Artenabgrenzung und dem durch die taxonomisch-systematische Erschließung bedingten Ausmaß taxonomischer Redundanz ermöglicht.
- Die Integration der ermittelten taxonomischen Diversität über Geo-Referenzierung der Artenvorkommen und -Verbreitung, zum Beispiel mit arealspezifischen abiotischen Daten (Relief, Bodenbeschaffenheit und anderen ökologischen, insbesondere klimatischen Parametern). Während bislang nur oberflächlich summarische, aber kaum in die Tiefe gehende oder gar vollständige Erfassungen von Sammlungsinhalten vorliegen, können die ermittelten und gesicherten Datensätze einer gezielteren Form des „species referencing“ durch Umwelt-Modellierungsansätze nutzbar gemacht werden. Dadurch lassen sich zukünftig wichtige und drängende Forschungsthemen auch in Kooperation mit anderen in Hamburg angesiedelten Forschungsinitiativen verknüpfen, etwa die Klimaforschung (z.B. Verschiebung von Artenarealen, Gefahr des Aussterbens, Habitatveränderung und Neueinwanderung von Arten im Zuge des Klimawandels); dies schließt auch Prognose und Nutzbarkeit für den Menschen mit ein.
Text: Matthias Glaubrecht