Interview
Perspektivwechsel: Interview zur Ausstellung „Das Ganze der Natur“
Lässt sich die Natur als Ganzes erfassen? Wie passt die Evolution auf ein Blatt Papier? Diesen Fragen sind Ausstellungsmacherinnen des Museums der Natur Hamburg zusammen mit Forschenden und Studierenden der Universität Hamburg für die Sonderausstellung „Das Ganze der Natur“ nachgegangen.
Am 29. November 2022 eröffnet die Ausstellung mit vielen Reproduktionen historischer und aktueller Karten, mit Bildern und Diagrammen aus Europa sowie integrierten Exponaten aus der zoologischen Dauerausstellung im Museum der Natur Hamburg. Die Ausstellungsmacherin Anne Merker vom Museum der Natur Hamburg des Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB), der Kunsthistoriker Prof. Dr. Frank Fehrenbach und der Wissenschaftshistoriker Dr. Dominik Hünniger, beide Universität Hamburg, reflektieren in einem Interview die Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Darstellung der Natur aus unterschiedlichen Perspektiven.
Wer sollte sich die Ausstellung unbedingt ansehen?
Anne Merker
Die Ausstellung richtet sich nicht nur an Naturinteressierte, sondern an alle, die neugierig sind und Lust haben, Natur, Kunst und Wissenschaftsgeschichte mal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Wir arbeiten mit vielen bildlichen Darstellungen aus dem Bereich der Biologie, Naturgeschichte, Geographie und Kunst und die Besuchenden sind eingeladen, Ähnlichkeiten und Veränderungen in den Darstellungen aufzuspüren. Sie können spielerisch die Natur auf ihre eigene Weise ordnen und Details im großen Ganzen finden. Die Ausstellung soll vor allem zum Weiterdenken inspirieren. Am Ende der Ausstellung hat jede und jeder die Möglichkeit, die ganz eigene Sicht auf „Das Ganze der Natur“ an uns weiterzugeben.
Studierende der Kunstgeschichte waren an der Auswahl der Exponate für die Ausstellung beteiligt – gab es hier Überraschungen für Sie?
Prof. Dr. Frank Fehrenbach
Mich hat die Unbefangenheit positiv überrascht, mit der Studierende der Kunstgeschichte sich mit dezidiert „nichtkünstlerischen“ Bildern auseinandergesetzt haben, beispielsweise mit der Plakette, die die Pioneer-Weltraummission begleitet hat oder mit der diagrammatischen Darstellung der Erdzeitalter. Hier scheint es im Anschluss an die moderne Bildwissenschaft tatsächlich kaum mehr Berührungsängste zu geben.
Nach welchen Kriterien ordnen wir überhaupt die Vielfalt der Natur?
Dr. Dominik Hünniger
Die Kriterien sind und waren so vielfältig wie die Natur und die Menschen selbst. Das Spannende ist herauszufinden, was bezweckten Menschen zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten mit der Ordnung, die sie jeweils gewählt hatten? Was sagt das über ihr Verhältnis zu Natur, Vielfalt und den Platz der Menschen darin aus? Diesen Fragen gehen wir in der Ausstellung nach und wollen dazu anregen, die Mechanismen und Vorstellungen hinter den Ordnungen zu entdecken.
Und inwiefern schaffen wir Menschen es, unsere Vorstellungen von der Natur in Darstellungen zu ordnen? Wo kommen wir an unsere Grenzen?
Prof. Dr. Frank Fehrenbach
Bildhafte Darstellungen haben schon früh erlaubt, nicht nur Gesehenes festzuhalten, sondern auch Beziehungen zwischen Körpern auf der Fläche zu fixieren, so zum Beispiel bei den 40.000 Jahre alten ersten Höhlenbildern, die mit der Jagd verbunden waren. Sobald diese Bilder mit festen Rahmen operierten – was sehr viel später aufkam –, wurden sie zum „Tableau“, das ein hohes Maß an Ordnung versprach. Zugleich lassen sich im begrenzten Bildfeld Spannungen und Hierarchien, also Dynamiken zwischen den Dingen der Natur veranschaulichen. Schwieriger wird es, wenn Bilder zeitliche Verläufe oder Entwicklungen darstellen sollen. Da gibt es aber sehr interessante Lösungen, die mit unseren Seherwartungen produktiv umgehen. Andererseits: Wenn es um Darstellungen der „ganzen Natur“ gehen soll, helfen Bilder stets auch sich klarzumachen, was alles „draußen“ bleiben muss. Die Grenzen der Bilder bezeichnen also zugleich paradoxerweise auch ihre Fähigkeit, auf das Andere und das Unbegrenzte aufmerksam zu machen.
Welche Ansätze gibt es in den modernen Naturwissenschaften, die Natur als Ganzes darzustellen? Haben sich die Formen der Darstellung geändert?
Anne Merker
Formen wie Listen, Baumdiagramme und Karten werden auch heute noch genutzt, um Zusammenhänge in der Natur zu visualisieren. So wie der Tree of Life in unserer Ausstellung, gibt es viele Ansätze, alles bekanntes Leben in einem Diagramm zu vereinen, um die Entwicklung des Lebens zu untersuchen und die Beziehungen zwischen lebenden und ausgestorbenen Organismen zu beschreiben. Unsere wissenschaftlichen und technischen Methoden sowie die Menge an generierten Forschungsdaten haben sich aber enorm erweitert. Immer schneller arbeitende Computer verarbeiten riesige Datenmengen und es lassen sich komplexe Naturphänomene simulieren und digital dreidimensional visualisieren.
Warum wird der Baum seit Jahrhunderten als ordnende Form genutzt?
Dr. Dominik Hünniger
Der Baum wurde vor allem dafür verwendet Verwandtschaftsbeziehungen darzustellen. Diese Tradition kommt in Europa aus dem Feudalismus. Adlige mussten nachweisen können, dass ihnen und ihren Nachkommen die Herrschaft zusteht, weil sie bestimmten Familien abstammten. Das Wort Abstammen enthält ja auch das Wort Stamm. Der Baum, sein Stamm, die Wurzeln und die verzweigten Äste waren passende Wort- und Bildvergleiche für Verwandtschaftsverhältnisse.
Zwischen Natur und Kunst, Naturwissenschaft und künstlerischer Darstellung gab es seit jeher eine Wechselbeziehung. Inwiefern hilft die Kunst über die bloße Darstellung hinaus das Unerklärliche zu erklären?
Prof. Dr. Frank Fehrenbach
Eine Unterscheidung zwischen bildhaften Darstellungen und Kunst, so schwierig sie zu bestimmen ist, hilft hier womöglich weiter. Bilder bieten in der Auseinandersetzung mit Natur, auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, den Vorteil, viele Einzelheiten zugleich in den Blick zu nehmen, eine Überschau zu schaffen.
Gerade diagrammatische Bilder ermöglichen darüber hinaus die spontan einsichtige Darstellung von Beziehungen zwischen unterschiedlichen Daten, Körpern, Elementen usw. Künstlerische Darstellungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sich in ihnen etwas gegen die reine „Informationsvermittlung“ sperrt. Sie sind mehrdeutig, rätselhaft, verweisen häufig auf ihr Gemacht-Sein, auch auf andere Bilder. (Man denke an Rembrandts „Alchemisten“ in der Ausstellung.) Damit befeuern sie sehr viel stärker die Imagination der Betrachtenden, auch von Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftlern.
Ein Anliegen unserer Ausstellung ist es zu zeigen, wie aber auch in scheinbar rein sachlich orientierten diagrammatischen Darstellungen immer das „Künstlerische“ hereindrängt. Es zeigt sich an der Vielzahl von gestalterischen Entscheidungen, die jeder Darstellung zugrunde liegen, also Verteilung auf der Fläche, Grenzziehungen, Farbigkeit (oder Verzicht darauf), Strichstärke, Richtungshaftigkeit. Das „Künstlerische“ zeigt sich aber auch an den Darstellungskonventionen, die für jede Zeit gelten - und der Vielzahl von innovativen graphischen Lösungen, die diese Konventionen durchbrechen.
Was sind die wesentlichen Zäsuren in der Darstellung über das Ganze der Natur? Verhilft uns heute die Digitalisierung zu mehr Überblick?
Dr. Dominik Hünniger
In unserer Ausstellung versuchen wir vor allem die Kontinuitäten zu zeigen. Wenn man sich Bilder vergleichend ansieht, fallen zunächst einmal viele Ähnlichkeiten und Traditionen auf, die sich lange gehalten haben. Das was sich vielleicht am häufigsten ändert, sind die Techniken der Darstellung und die veränderten Möglichkeiten, die durch den Einsatz neuer Medien und neue Produktionsweisen entstanden. Die Chance, die uns digitalisierte Objekte, Texte und Bilder bieten, besteht darin neue Blickwinkel einzunehmen. Durch Vergrößerungen und direkte Vergleiche fallen uns Details auf, die wir mit bloßem Auge nicht entdecken können. Im Grunde ist aber auch das nicht ganz neu. Lupen oder Vergrößerungsgläser und Ähnliches sind schon lange Instrumente, die sowohl bei der Herstellung als auch bei der Betrachtung von Bildern zum Einsatz kommen.
Wie vermag ein Museum „Das Ganze der Natur“ abzubilden?
Anne Merker
Naturkundliche Museen bilden die Natur und ihre Zusammenhänge im dreidimensionalen Raum ab. Wie auch Bilder und Diagramme sind Museen beschränkt in ihrer Darstellung. Kuratorinnen und Kuratoren treffen eine Auswahl, setzen regionale und thematische Schwerpunkte. Um die Inhalte anschaulich zu vermitteln, greifen auch Museen auf wissenschaftliche Abstraktionen wie Baumdiagramme, Kreise oder Karten zurück. Anders als statische Bilder können Museen aber über die reine Betrachtung hinaus mit Besuchenden agieren: Sie sind Lern- und Mitmachorte, eine Schnittstelle zwischen Forschung und Besuchenden.
Die Ausstellung
Die Ausstellung „„Das Ganze der Natur – Kräfte, Ordnungen, Grenzen“ (30.11.22–27.8.23) ist im Rahmen der Aktivitäten der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe „Imaginarien der Kraft“ an der Universität Hamburg in Zusammenarbeit mit dem Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB) entstanden. Studierende der Universität Hamburg haben die Ausstellung in zwei Seminaren inhaltlich vorbereitet und die Wahl von Ausstellungsobjekten unterstützt. Teil der Sonderausstellung sind Interventionen in der zoologischen Dauerausstellung des Museums der Natur Hamburg.
Kontakt:
- Prof. Dr. Frank Fehrenbach, Universität Hamburg, Kunstgeschichtliches Seminar, Co-Sprecher der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe „Imaginarien der Kraft“
Tel.: +49 40 42838 1325; E-Mail: frank.fehrenbach"AT"uni-hamburg.de - Dr. Dominik Hünniger, Universität Hamburg, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe „Imaginarien der Kraft“
Tel.: +49 40 42838-4988; E-Mail: dominik.huenniger"AT"uni-hamburg.de - Anne Merker, Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB)/ Museum der Natur Hamburg, Ausstellungskonzeption
Tel.: +49 40 238317-926; E-Mail: a.merker"AT"leibniz-lib.de