Erleben wir derzeit das sechste Massenaussterben?
5. September 2019
Foto: UHH/CeNak
Versteinerte Insekten, wie hier aus dem Oberpliozän von Willershausen, lassen Rückschlüsse auf die Lebensräume der Urzeit zu.
Die berühmtesten Opfer eines Massensterbens sind wohl die Dinosaurier. Vor 66 Millionen Jahren wurden sie innerhalb kurzer Zeit ausgelöscht. Ob wir uns derzeit mitten im sechsten Massensterben der Erdgeschichte befinden und was die vergangenen Aussterbeereignisse kennzeichnet, diskutierten jetzt auf der fünften EGU Galileo Conference in Utrecht Geowissenschaftler und Biologen aus aller Welt, darunter auch Ulrich Kotthoff. Als Leiter des Geologisch-Paläontologischen Museums befasst er sich mit weiteren Wissenschaftler des CeNak speziell mit Insekten und Spinnentieren. Unter dem Titel „Mass extinctions, recovery and resilience“ reflektierten sie etwa die Auswirkungen von gravierenden und plötzlichen Änderungen in der Biodiversität.
Ein Gespräch mit Ulrich Kotthoff und Bas van de Schootbrugge, dem Organisator der Konferenz.
Wann sprechen Sie vom Massensterben?
Ulrich Kotthoff:
Die Artenvielfalt auf der Erde unterliegt natürlichen Schwankungen, und nicht bei jedem Aussterbeereignis spricht man gleich von einem Massenaussterben. Aber in den vergangenen 500 Millionen Jahren hat die Erde fünf Ereignisse erlebt, bei denen innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit bis zu 90 Prozent der lebenden Arten vernichtet wurden. In den meisten Fällen hingen diese Massenaussterben mit extrem heftigem Vulkanismus zusammen. In wenigstens einem Fall, beim Aussterben der Dinosaurier, kam ein Meteoriteneinschlag im Gebiet des Golfs von Mexiko hinzu.
Was zeigt für Sie der Blick zurück?
Ulrich Kotthoff:
Selbst besonders lang zurückliegende Aussterbeereignisse können dazu beitragen, ein besseres Verständnis für die Zusammenhänge zwischen dem Aussterben und dem Entstehen neuer Arten einerseits, und Klimaänderungen, Änderungen Ozeanchemie und tektonischen Prozessen andererseits zu gewinnen.
Woran erkennen Sie, dass ein Massensterben stattgefunden hat?
Bas van de Schootbrugge:
Am Ende der Triaszeit zum Beispiel, vor etwa 200 Millionen Jahren, tauchen plötzlich fehlgebildete Pollenkörner auf, die auf Umweltstress schließen lassen. Die Vegetation erlebte rapide Änderungen, wir können im Fossilbericht sehen, dass sich nach dem Ende der Trias Farne ausgebreitet haben, wo vorher Wälder standen. Bei dem Aussterben am Ende der Trias finden wir auch Hinweise auf regionale Erosion von Böden, vergleichbar mit dem, was wir heute zum Beispiel durch Rodung auf der Insel Madagaskar erleben.
Ulrich Kotthoff:
Zu dieser Zeit, am Ende der Trias, brachen gerade der nordamerikanische und der europäische Kontinent auseinander, der Atlantische Ozean entstand. Das brachte intensive vulkanische Aktivität mit sich, wie wir sie uns heute kaum vorstellen können. Der Vulkanismus sorgte für hohe Gehalte von CO2 und Schwefeldioxid in der Atmosphäre – doch ähnlich hohe Werte könnten auch durch den Verbrauch fossiler Brennstoffe erreicht werden.
Ist der gegenwärtige Rückgang an Biomasse und Artenreichtum bei Insekten mit den großen Massenaussterben vergleichbar?
Ulrich Kotthoff:
Leider haben wir gerade für Insekten wie auch für Spinnentiere und Tausendfüßer keinen lückenlosen Fossilbericht, daher ist der Vergleich nicht ganz so einfach. Es reicht auch nicht, über Genanalysen ihre Entwicklung zu rekapitulieren, weil uns dann ausgestorbene Gruppen oder besondere Anpassungen entgehen. Um ein möglichst genaues Bild zu erhalten, nutzen wir auch indirekte Hinweise, wie Änderungen von Fraßspuren an Blättern, um die Formenvielfalt der Insekten in der Erdgeschichte zu rekonstruieren. Im Vergleich zu anderen Tiergruppen sind gerade Insekten offenbar weniger von Aussterbeereignissen betroffen: Rasche Generationswechsel und die hohe Anzahl von Tieren je Art tragen dazu ebenso bei wie die Fähigkeit vieler Insekten, als Ei, Larve oder Puppe unangenehme Umweltbedingungen überdauern zu können.
Und welche Rolle spielt der Einfluss des Menschen?
Ulrich Kotthoff:
Ein ganz entscheidender Unterschied zu den früheren Aussterbeereignissen ist tatsächlich, dass der Mensch gerade gegen Insekten ganz bewusst vorgeht. Wenn es um Aspekte wie CO2-Ausstoß oder auch die Änderungen von Ökosystemen geht, sind wir Menschen vielleicht mit Faktoren wie Vulkanismus vergleichbar. Doch mit dem Einsatz von Insektiziden und Pestiziden gehen wir noch einen Schritt weiter und gehen gezielt gegen Organismen vor, die wir als schädlich erachten. Und dabei nehmen wir auch noch gewaltige Kollateralschäden in Kauf.
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Ulrich Kotthoff
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