Der Schatz des Monats Juli: Ein Rehschädel - von einem Eichhörnchen benagt
1. Juli 2017
Foto: UHH/CeNak, Kaiser
Das 3-D-Modell eines Rehschädels von oben betrachtet.
Eine Hamburger Bürgerin hat diesen Rehschädel im Oktober 2016 in einem Waldstreifen bei Bergedorf gefunden und an die Säugetierabteilung des Centrums für Naturkunde weiter gegeben. Der Fund ist ungewöhnlich. Auch die Nagespuren.
Wer hat schon einmal einen Rehschädel im Wald gefunden? Das kommt selten vor, denn die Überreste verendeter Tiere bilden die natürliche Nahrungsquelle für zahlreiche andere Tiere, Pilze und Bakterien. Während die energiereichen Weichgewebe zumeist schnell vertilgt sind, können sich Knochen bis zu mehreren Jahren an der Oberfläche liegend erhalten. Meist stehen die als Destruenten bezeichneten Organismen, zu denen unzählige Pilze- und Bakterienarten, Insekten und Wirbeltiere gehören, in einem erbitterten Konkurrenzkampf miteinander und besiedeln einen Tierkadaver in einer festen Abfolge, der Leichensukzession. Ein totes Wirbeltier kann also als ein eigenes Ökosystem verstanden werden. Geschwindigkeit und Dauer dieser Abfolge, auch die Anzahl der Generationen, die sich entwickeln, ist stark abhängig von den lokalen Gegebenheiten, vor allem von Temperatur und Feuchtigkeit.
Wenn schließlich alle Weichgewebe verdaut sind, sind die Knochen nur noch für wenige Tierarten attraktiv, doch auch Knochen ist nicht gleich Knochen. Knochenmark dient Säugetieren als Fettspeicher und füllt Hohlräume im Knochen aus. Diese Fette sind oft noch nach Jahren eine attraktive Nahrung, sofern die Knochen nicht durch Sonneneinstrahlung und Hitze entfettet wurden. Von Ratten ist bekannt, dass sie diese Nahrungsquelle gerne nutzen und dabei ihre Nagezähne einsetzen um durch die kompakte Außenschicht der Knochen ins Innere vorzudringen.
Der Gehirnschädel eines Rehes ist als Fettlieferant jedoch wenig attraktiv, denn er ist überwiegend aus kompaktem Knochengewebe aufgebaut. Es muss daher noch eine andere Motivation für ein Nagetier geben, das harte äußere Knochengewebe mit großem Kraft- und Energieaufwand mit seinen Zähnen zu bearbeiten. Der reine Nagetrieb und die Notwendigkeit zur Abnutzung der dauerwachsenden Schneidezähne ist eine Möglichkeit. Es könnte aber auch der Mineraliengehalt, vor allem der Phosphatgehalt des Knochens sein, oder einfach der Nahrungswert des Kollagens, einem Eiweiß, das Zugkräfte ableitet.
Kollagen ist sehr stabil und lässt sich sehr lange noch nachweisen, selbst in verwittertem Knochen. Ein solches Nageverhalten an fettfreiem Knochen kennt man z.B. vom Eichhörnchen. Auch wenn wir nicht wissen, welches Nagetier letztlich unseren Rehschädel so „zugerichtet“ hat, er ist ein selten gefundenes Dokument für ein wissenschaftlich noch kaum untersuchtes Phänomen, der Verzehr von Knochen (Osteophagie) durch Nagetiere.
Wir würden gerne mehr wissen über dieses Phänomen, denn es gibt interessante Anwendungen dieses Wissens. In der Forensik können Nagetiere durch Ihr Verhalten zur Eingrenzung von Liegezeiten einer Leiche beitragen. Auch die Paläobiologie bedient sich der Leichensukzession als einem Indikator für die Rekonstruktion fossiler Lebensräume und ihrer ökologischen Variablen.