Zahnschmelz kann Hinweise zur Ernährung heimischer Seehunde liefern
27. Mai 2021
Foto: UHH/CeNak, Elehna Bethune
Abformung des Zahnschmelzes mit hochauflösendem Silikon entlang der oberen Bezahnung eines Seehundes.
Jahrzehnte altes Sammlungsmaterial kann uns heute noch Aufschluss über die Ernährung lange verstorbener Seehunde geben. Das zeigt eine von Hamburger Forschenden veröffentlichte Studie in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Frontiers in Ecology and Evolution. Am Centrum für Naturkunde (CeNak) wurden die Oberflächentexturdaten auf Zähnen von Seehunden (Phoca vitulina) untersucht. Der Nachweis von kleinsten Veränderungen im Nahrungsspektrum könnte einen Beitrag zum Artenschutz leisten.
Diese Methode ist bereits für die Rekonstruktion der Ernährungsweisen terrestrischer Säugetiere etabliert – bisher aber noch nicht für marine Säugetiere. Die Forscherinnen und Forscher hoffen nun, die Methode in Zukunft erfolgreich an Zähnen von Seehunden und anderen Robben anwenden zu können, um kleinste Veränderungen im Nahrungsspektrum zu detektieren.
Festgestellte Verschiebungen des Beutemusters vergangener Seehundpopulationen könnten indirekt Hinweise auf Veränderungen von Umwelteinflüssen geben – sei es natürlichen oder anthropologischen Ursprungs. Überfischungen, Schiffsverkehr, Offshore-Arbeiten und Klimawandel können das Fischvorkommen regional beeinflussen. Dies hat einen direkten Effekt auf die Ernährung und somit die Fitness heimischer mariner Säugetierpopulationen. Indirekte Warnsignale durch Anwendung der vorgestellten Methode könnten die Beurteilung heimischer Populationen unterstützen und somit einen Beitrag zum Artenschutz leisten.
Bei Seehunden steht die Oberflächentextur des Zahnschmelzes im direkten Zusammenhang zum Fressverhalten
Die Forschenden hatten mit Silikon die Zahnoberflächen von 78 Seehunden** abgeformt und anschließend mit einem hochauflösenden Mikroskop die Oberflächentopographie des Zahnschmelzes untersucht. Das Ergebnis war, dass die Oberflächentextur eine hohe Variabilität zwischen den Positionen im Gebiss hat. So hatten die hinteren Zähne raueren Zahnschmelz als die vorderen Zähne. Dies stimmt überein mit dem beobachteten Fressverhalten von Seehunden: Kleinere Fische werden vor allem durch Unterdruck eingesaugt und eventuell kurz mit den vorderen Zähnen geschnappt. Die Backenzähne kommen dann zum Einsatz, wenn große, harte Beute zerteilt werden muss. Hierbei könnten die deutlich messbaren Spuren in der Zahnschmelztextur entstanden sein. Dies gibt Hinweise darauf, dass die Oberflächentextur von Seehundzähnen im direkten Zusammenhang mit dem biomechanischen Fressverhalten steht.
Zwischen den untersuchten Alters- und Saisongruppen waren keine Unterschiede zu messen. So hatten fünf und zehn Jahre alte Tiere eine ähnliche Oberflächentextur, wahrscheinlich weil Seehunde Nahrungsopportunisten sind und sich das Beuteschema bei erwachsenen Tieren einer Region nicht unterscheidet. Ebenso konnte kein Unterschied im Zahnschmelz von Seehunden gefunden werden, die im Sommer und im Herbst verstorben sind. Lediglich zwischen den Geschlechtern waren Unterschiede im Zahnschmelz der vorderen Zähne messbar. Für zukünftige Studien wird empfohlen, das Messprotokoll anzuwenden, um einerseits eine hohe Vergleichbarkeit zwischen den Daten zu gewährleisten.
Die Studie ist Teil des von der Volkswagen-Stiftung geförderten internationalen Kooperationsprojektes „Marine Mammals in a Changing Environment“. An der Studie beteiligten sich auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Leipzig, des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und des Büsumer Institutes für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung der Stiftung, Tierärztliche Hochschule Hannover.
Die untersuchten Seehunde waren wahrscheinlich Opfer des großen, durch einen Staupevirus ausgelösten Seehundsterbens im Jahre 1988
**Zum Ursprung der untersuchten Tiere: Das Skelettmaterial wird kuriert am Zoologischen Institut und Museum der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und wurde zwischen Juni und Oktober des Jahres 1988 entlang der deutschen Nordseeküste gesammelt. In jenem Jahr wurden über 60% der damaligen Seehundpopulation tot aufgefunden. Auslöser für das Massensterben im Wattenmeer war die virusbedingte Seehundstaupe (Phocine Distemper Virus, PDV). Allgemeine Immunschwäche, bakterielle und parasitäre Infektionen der Seehunde, ausgelöst durch hohe Schadstoffbelastung in dem Lebensraum, begünstigte die Virusepidemie zusätzlich. Der Ursprung des Virus ist bisher nicht ganz geklärt, Experten vermuten aber, dass der Staupe-Virus wahrscheinlich durch arktische Robbenarten (Klappmützen und Sattelrobben) eingeschleppt wurde. Die Migration dieser Robben in den Süden wiederum solle durch starke Überfischung und Rückgang der arktischen Fischbestände ausgelöst worden sein.