Kurz erklärt…Viren, Mutationen und die Ausbreitung der COVID-19-Pandemie
21. April 2020
Foto: Nextstrain.org
Forscherinnen und Forscher des Open-Source-Toolkits Nextstrain haben die weltweit entschlüsselten und frei verfügbaren Daten von vielen SARS-CoV-2-Genomen verwendet, um die Ausbreitungsgeschichte der COVID-19-Pandemie im verwandtschaftlichen Zusammenhang der verschiedenen Abstammungslinien zu rekonstruieren.
Dr. Marco Thomas Neiber, Postdoktorand in der Abteilung Biodiversität der Tiere am CeNak, spricht über Viren sowie deren Mutationen und beschreibt, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Ausbreitung der COVID-19-Pandemie rekonstruieren.
Ob Viren als Lebewesen gelten, darüber debattiert die Wissenschaft. Einig sind sich die Experten allerdings darin, dass sie dem Leben nahestehen. Sie weisen mit echten Lebewesen, die aus ein- oder mehreren bis vielen Zellen aufgebaut sind, einige Gemeinsamkeiten auf. Mit echten Lebewesen teilen Viren beispielsweise, dass das Programm zu ihrer Vervielfältigung in der Abfolge der Bausteine von Nukleinsäuren kodiert ist.
Im Fall des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 ist die Erbinformation auf einer einzelsträngigen Ribonukleinsäure (RNS, oft auch RNA nach dem englischen ribonucleic acid abgekürzt) kodiert, die durch Mutationen, also Veränderungen der Abfolge der Bausteine der RNS, evolutiven Änderungen unterliegt. Mutationen können während fehlerhafter Vervielfältigung des Virus innerhalb einer befallenen Wirtszelle auftreten und weitergegeben werden. Aufgrund fehlender Korrekturmechanismen und der sehr hohen Vervielfältigungsrate von Viren treten Mutationen relativ häufig auf und können sich somit im Laufe der Zeit im Erbgut (Genom) des Virus ansammeln. Dies kann mit der Zeit dann zur Ausbildung unterschiedlicher Virustypen führen.
Die Tatsache, dass das Genom einzelner Virusproben oft nicht vollkommen identisch ist und Mutationen an unterschiedlichen Stellen im Genom auftreten, können sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu Nutze machen. Mit diesen Informationen können sie mit mathematischen Methoden Stammbäume erstellen. Aus diesen Stammbäumen lässt sich dann die Verwandtschaft einzelner Virusproben ableiten. Als Faustregel gilt hierbei: Je ähnlicher die Genome zweier Virusproben sind, desto näher sind sie miteinander verwandt; bzw. je unähnlicher die Genome zweier Virusproben sind, desto weitläufiger ist die Verwandtschaft. Kennt man nun noch den Ort, an dem eine Probe genommen wurde sowie den Zeitpunkt der Probennahme, lässt sich zusätzlich zu einem Stammbaum noch die zeitliche Abfolge des Auftretens von Mutationen und die Ausbreitungsgeschichte eines Virus rekonstruieren.
Forscherinnen und Forscher des Nextstrain-Teams (www.nextstrain.org) haben nun die weltweit entschlüsselten und frei verfügbaren Daten von vielen SARS-CoV-2-Genomen verwendet, um die Ausbreitungsgeschichte der COVID-19-Pandemie im verwandtschaftlichen Zusammenhang der verschiedenen Abstammungslinien zu rekonstruieren. Die Ergebnisse der Untersuchung (www.nextstrain.org/ncov/global) zeigen eine frühe Ausbreitung von SARS-CoV-2 in China und weiteren asiatischen Ländern. Daraufhin folgten erste interkontinentale Verschleppungen nach Australien, Europa und Nordamerika. Mit fortschreitender Zeit wurde das Ausbreitungsgeschehen komplexer, mit zahlreichen weiteren Verschleppungen innerhalb und zwischen den Kontinenten, wie man in der animierten Grafik des Nextstrain-Teams verfolgen kann.
Bei der Bewertung der Analyseergebnisse ist auf jeden Fall immer zu beachten, dass nur eine Hypothese auf Grundlage der verfügbaren Daten abgeleitet werden kann. Schließlich können nur von einem kleinen Teil der tatsächlich infizierten Personen Daten in eine Analyse einbezogen werden, wenn auch mittlerweile tausende Genome verfügbar sind. Zudem sind derartige Analysen auch immer mit statistischen Unsicherheiten behaftet, insbesondere bezüglich der rekonstruierten geographischen Ausbreitung und spezifischer Übertragungszeitpunkte, die aus den Daten selbst und den verwendeten mathematischen Methoden resultieren.
Kontakt
Dr. Marco Neiber
Abt. Biodiversität
Centrum für Naturkunde
Universität Hamburg
Tel.: +49 40 42838-3918
E-Mail: marco-thomas.neiber"AT"uni-hamburg.de