Artenreich, aber bedroht: Rote Liste der europäischen Landschnecken vorgestellt
27 September 2019
Photo: UHH/CeNak, Neiber
Eine Schnecke der Art Hemicycla modesta von Teneriffa. Eine sogenannte Lazarusart, die als ausgestorben galt.
Schnecken sorgen für gesunde Böden und damit für Pflanzenwachstum, sie sind Nahrungsquelle für Vögel, Fische und Säugetiere. Nun wurde in Brüssel die Rote Liste für terrestrische Weichtiere (European Red List of Terrestrial Molluscs) in Europa offiziell vorgestellt und diskutiert. Über 20 Prozent der Schneckenarten gelten demnach in Europa als gefährdet, fünf Arten sind vermutlich ausgestorben. An der Erhebung war auch CeNak-Schneckenforscher Marco T. Neiber beteiligt.
Von Island im Westen bis zum Ural im Osten, von der Franz-Josef-Inselgruppe im Norden bis zu den Makaronesischen Vulkaninseln im Süden: Für die Rote Liste hat die IUCN (International Union for Conservation of Nature) insgesamt 2.469 Schneckenarten bewertet, die auf dem europäischen Festland und zugehörigen Inseln heimisch sind. Mit Ausnahme der Kaukasus-Region wurde der gesamte Kontinent sowie die heutigen 28 EU-Mitgliedsstaaten berücksichtigt. Knapp 22 Prozent der erfassten Arten sind aktuell in ihrem Bestand bedroht, stellt das internationale Team von Forscherinnen und Forschern fest. Als stark vom Aussterben gefährdet gelten 97 Schneckenarten, 90 Arten werden als gefährdet eingestuft. Weitere 296 Arten sind hohen Belastungen ausgesetzt. Fünf Schneckenarten von den Atlantik-Inseln Madeira und Porto Santo sowie von Inseln im Ägäischen Meer sind vermutlich ausgestorben.
Einzelpopulationen besonders gefährdet
Mollusken sind in fast allen Lebensräumen verbreitet und eine der artenreichsten Tiergruppen überhaupt, erklärt CeNak-Schneckenforscher Marco T. Neiber. Für die aktuelle Rote Liste hat er als Mitautor Forschungsdaten eingebracht und in Workshops mit internationalen Kolleginnen und Kollegen den Report erarbeitet. Elf Arten wurden für die Auswertung nicht in die Liste aufgenommen, da sie in Europa nicht heimisch sind. Etwa die Hälfte der Bewertungen wurden zwischen 2009 and 2011 erarbeitet (Cuttelod et al., 2011), die andere Hälfte zwischen 2015 und 2018. Eine besonders hohe Schneckenvielfalt gibt es in den Bergregionen der Pyrenäen, Alpen und Karpaten. Außerdem auf der Balkanhalbinsel und den Makaronesischen Inseln im östlichen Zentralatlantik. Gerade auf Inseln wie etwa Teneriffa, Gran Canaria oder Madeira finden sich auch nur dort vorkommende Arten. „Solche endemische Arten sind aufgrund ihrer kleinräumigen Verbreitung oft besonders gefährdet, wenn es keine Schutzgebiete oder besonderen Umweltauflagen gibt“, sagt Marco T. Neiber.
Wegfall natürlicher Lebensräume
Über 30 Prozent der Schneckenarten leiden laut der Analyse unter menschlichen Eingriffen in ihre Lebensräume. Dazu zählen der Rückschnitt von Hecken und Büschen, das Einebnen von Erdwällen und das Trockenlegen von Nassgebieten. Der Verlust von Wiesen, Wäldern und Marschland durch Wohn-, Hotel- und Industrieanlagen gehört zu den größten Problemen. Schnecken, die auf intakte Wälder angewiesen sind, sind etwa durch intensive Forstwirtschaft bedroht. Unkontrolliertes Grasen von Nutztieren zerstört die empfindlichen Lebensräume vieler Schneckenarten. Das industrielle Ausweiten landwirtschaftlicher Nutzflächen, Monokulturen, Begradigung von Flüssen und künstliche Entwässerung sind ebenso problematisch. Auch Wald- und Steppenbrände sind ein Risiko für Populationen, wie etwa der Rückgang einzelner Arten auf der griechischen Halbinsel Peloponnes zeigt.
Mehr Daten nötig
Wie viele Schneckenarten es genau in Europa gibt, ist noch unbekannt. So wurden etwa seit der Fertigstellung der Roten Liste 15-20 Arten in Europa neu beschrieben. Auch Marco T. Neiber war beispielsweise 2016 und 2018 an der Beschreibung neuer Arten von den Kanarischen Inseln und Porto Santo beteiligt und hat eine für ausgestorben gehaltene Art von Teneriffa wiederentdeckt. „Durch intensive Feldarbeit auf Atlantischen Inseln konnten gerade einige für ausgestorben gehaltene Arten, so genannte Lazarus-Arten, wiederentdeckt werden. Dies zeigt, wie wichtig die Forschungsarbeit im Feld ist“, sagt Schneckenexperte Neiber. Ein Problem der Forscherinnen und Forscher ist auch die mitunter dünne Datenlage. So ist die genaue Populationsgröße einzelner Arten mangels langfristiger Monitoringprogramme häufig nicht bekannt. Auch die Auswirkungen klimatischer Veränderungen auf die Tiere sind noch wenig erforscht.
Höhere Forschungsinvestitionen und Schutzkonzepte
Die aktuelle Rote Liste gehört zum sogenannten „LIFE“-Programm der Europäischen Union. Analysiert wurden auch Holzkäfer, Moose, Gefäßsporenpflanzen und Gefäßpflanzen. Die IUCN, die als Dachverband zahlreicher Regierungsbehörden und nichtstaatlicher Umweltschutzverbände die Rote Liste gemeinsam mit dem Brüsseler Umweltamt Bruxelles Environnement vorgestellt hat, empfiehlt höhere Investitionen in die Forschung und langfristige Monitoringprogramme - auch mit Citizen-Science-Projekten. Notwendig sei zudem die weitere Erschließung und Ausweitung von Schutzgebieten. Nicht nur in der Land- und Forstwirschaft müssten Maßnahmen umgesetzt werden, die die Biodiversität insgesamt erhalten und fördern. Dazu zählen etwa Konzepte gegen Bodenerosion und Anbau- und Forstmethoden, die natürliche Lebensräume weniger beeinflussen.
Weitere Informationen
Dr. Marco Thomas Neiber
Centrum für Naturkunde
Martin-Luther-King-Platz 3
20146 Hamburg
Tel.: +49 40 42 838-5644
E-Mail: Marco-Thomas.Neiber"AT"uni-hamburg.de
Link zur Publikation:
European Red List of terrestrial molluscs: snails, slugs, and semi-slugs